Zeugnistag

Zeugnisse. Nächsten Freitag ist es wieder so weit. Bei einigen Vorfreude, bei anderen eine böse Vorahnung oder Bangen.

Zeugnisse sind immer eine aufregende Sache, nicht nur in der Schule. Das hängt damit zusammen, dass Zeugnisse und die, die sie ausstellen, etwas über unsere Person aussagen. Beurteilt zu werden, das lässt nur wenige Menschen wirklich kalt. Manchmal fühlen wir uns ungerecht beurteilt, manchmal sind wir zufrieden – aber natürlich nur dann, wenn wir gut beurteilt werden.

Reinhard Mey berichtet in seinem Lied „Zeugnistag“ von einem abgrundtief schlechten Zeugnis: „Ich war ein fauler Hund ..., doch trotzdem hätte ich nie geglaubt, so ein totaler Versager zu sein.“ „Mit diesem Zeugnis kommst du besser nicht nach Haus“, sagt der Junge sich und unterschreibt für seine Eltern. Dies kommt natürlich heraus. Als er ins Büro des Rektors zitiert wird, sitzen seine Eltern schon dort. Der Junge weiß, dass er falsch gehandelt hat. Niemand darf Unterschriften fälschen. Er befürchtet und erwartet das Schlimmste, das, was er unbedingt vermeiden wollte, nämlich die Verurteilung durch die wichtigsten Menschen in seinem Leben, seine Eltern.

Aber was dann geschieht, empfindet er als Wunder: Seine Eltern behaupten steif und fest, sie hätten tatsächlich unterschrieben. Das ist nicht gerecht, und auf keinen Fall rechtens. Aber ihm war es eine wunderbare Lektion fürs Leben: „Wie gut es tut, zu wissen, dass dir jemand Zuflucht gibt, ganz gleich, was du auch ausgefressen hast!“ Natürlich fordern weder Reinhard Mey noch ich dazu auf, Unterschriften zu fälschen. Aber wie gut tut so eine Erfahrung: „zu wissen, dass dir jemand Zuflucht gibt, ganz gleich, was du auch ausgefressen hast!“ Dies ist nichts weniger als die große Erfahrung Luthers in seinem Leben. Martin Luther hatte dem Brief des Paulus an die Römer die Erkenntnis entnommen: „Jetzt aber hat Gott uns gezeigt, wie wir vor ihm bestehen können, nämlich unabhängig vom Gesetz. Gott spricht jeden von seiner Schuld frei und nimmt jeden an, der an Jesus Christus glaubt. Nur diese Gerechtigkeit lässt Gott gelten. Denn darin sind alle Menschen gleich: Alle sind Sünder und haben nichts aufzuweisen, was Gott gefallen könnte. Aber was sich keiner verdienen kann, schenkt Gott in seiner Güte: Er nimmt uns an, weil Jesus Christus uns erlöst hat.“ (Kapitel 3). Luthers Grundfrage „Wie bekomme ich einen gnädigen Gott?“ ist nicht mehr die Frage unserer Zeit.

Unsere Lebensfragen heute lauten: Wer bin ich? Was macht mein Leben aus? Wozu bin ich da? Welchen Sinn hat mein Leben? Und als Antwort ist es entscheidend – heute wie damals – nicht nur danach zu fragen, welche Leistung und welches Zeugnis jemand vorzuweisen hat. Wir Menschen sind mehr als unsere Beurteilungen. Und wo wir entdecken, dass in unserer Umgebung Kinder, Jugendliche oder Erwachsene nur auf das reduziert werden, was sie erreicht oder nicht erreicht haben, da sollten wir die Erkenntnis von Paulus und Luther weiterzusagen: Über allem und vor allem steht das Geschenk des Lebens und des Angenommenseins von Gott durch Jesus Christus. Oder mit Reinhard Mey gesprochen: „Wie gut es tut, zu wissen, dass dir jemand Zuflucht gibt, ganz gleich, was du auch ausgefressen hast!“
Ihr Pfarrer Dr. Carsten Glatt